Grand Tortour des Alpes

Da standen wir nun im Juni 2004 mit unseren Fünfzigern auf dem Stilfser Joch und haben uns gefragt, ob das wirklich schon alles an Passhöhe war, was man in den Alpen unter die 2,75x17 kleinen Reifen bekommen kann. An diesem Abend brachte ein Blick auf die Landkarte die Offenbarung. Weiter im Süden, in den französischen Seealpen, geht es noch höher hinaus.

 

Danach gab es kein Halten mehr! Das Bezwingen der beiden höchsten Pässe Col d’Iséran (2770m) und die Cime de la Bonette (2802m) war eine Frage der Ehre. Gut ein Jahr nahm die Planung in Anspruch, dann standen die Eckdaten fest. Für acht Fahrer galt es insgesamt 3200km durch fünf europäische Länder und über 44 ausgewiesene Pässe zu bewältigen. Der fahrbare Untersatz durfte selbstverständlich nicht mehr als 50ccm Hubraum haben und mußte mindestens 25 Jahre alt sein.

 

Obwohl unsere 13-tägige Fahrt im August 2006 stattfand, hielt das Wetter so einige Überraschungen für uns bereit. Neben dem erhofften Sonnenschein hatte es unter anderem auch heftigen Schneefall im Programm. Im Nachhinein betrachtet gehört das alles aber zum Erlebnis Seealpen - im positivsten Sinne. Besonders die beiden Etappen von Bourg-St.-Maurice in den Savoyer Alpen über den Grimsel nach Brienz in der Zentralschweiz und von dort über Susten und Klausen nach Bonndorf im Schwarzwald werden einigen Teilnehmer wohl lebhaft in Erinnerung bleiben.

Besonders Kreidler-Pilot Daniel, unser jüngster Mitfahrer, hat erfahren müssen, wie auch der langsame Anstieg durch das obere Rhône-Tal das Thermometer schmerzlich sinken lassen kann. Der stetige kalte Regen, der uns allen zu schaffen machte, und seine Beratungsresistenz in Sachen Schutzkleidung führten dazu, daß er in Gletsch bis auf die Knochen durchgefroren war und aufgeben mußte.

Tags darauf wurden wir dann bei der Überquerung des Susten von rund 15cm Neuschnee auf der Straße überrascht. Wir wußten zwar, daß es in der Nacht ordentlich geschneit hatte, aber in der Jugendherberge wurde uns gesagt, daß der Winterdienst voll im Einsatz und die Strecke geräumt sei. Nach einer Abstimmung mit nur einer Gegenstimme haben wir deshalb beschlossen, nicht von der geplanten Route abzuweichen und eine kleine Schneefahrt zu riskieren. Daß die Informationen des Herbergsleiters nicht ganz zutreffend waren, hat sich dann am letzten Gasthaus rund 4km vor der Paßhöhe gezeigt. Dort haben nämlich die Winterdienstfahrer ihr zweites Frühstück eingenommen und uns dem Schnee und immer dichter werdenden Nebel überlassen. Auf den letzten Metern vor der Paßhöhe und kurz danach waren es Karoline und wiederum Daniel, denen die weiße Pracht aufgrund minimaler Fahrfehler oder einfach nur Pech zum Verhängnis wurde. Beide mußten sich der Erdanziehungskraft geschlagen geben, was unserer einzigen Frau am Lenker den Spitznamen Frau Holle eingebrachte. Immerhin hat sie in der Highscore-Liste der „Freunde der Schwerkraft – FdS“ gleich zweimal im Schnee gepunktet. Zur Warnung der nachfolgenden Fahrer wurden die aktuellen Punkte übrigens durch farbige Striche auf dem Lederkombi des Bruchpiloten angezeigt.

Die Highscore-Liste mußte im Laufe der Seealpentour immerhin zehn Mal aktualisiert werden, was unseren Chronisten zur Aussage bewegte, daß es zukünftig aus Platzgründen keine FdS-T-Shirts mehr sondern Bettwäsche gäbe.

Mit nur zwei Punkten überraschend zurückhaltend gab sich unser Vorstand Oliver mit seiner sturzerprobten RS, der dessen ungeachtet die Liste weiterhin sehr souverän anführt.

Der erste Strich der Tour wurde übrigens schon rund 100km nach dem Start im nordbadischen Neuthard vergeben. Nachdem im Murgtal unsere beiden Schwarzwälder Mitfahrer Blumi mit seiner Ultra und Markus auf Kreidler TM zu uns gestoßen waren, haben wir die Maschinchen auf dem ersten größeren Anstieg zur Nachtigall auf ihre Leistungsfähigkeit überprüft. Und obwohl man sich gut vorstellen kann, daß man 6,25PS am Berg keine halsbrecherischen Geschwindigkeiten erreicht, reicht es doch immer wieder, um sich der Schwerkraft hinzugeben. In diesem Fall war es der bisher punktfreie Hercules Ultra-Fahrer Weschi. Daß er nicht der einzige geblieben ist, lag sicher auch am ständigen Bemühen jedes einzelnen die nächste Paßhöhe als erster zu erreichen. Dafür überholte man auch schon einmal unseren Navigator Markus und nahm so in Kauf vom rechten Weg abzukommen. Allerdings hielt sich das Risiko zumindest in den ersten Tagen in Grenzen, da er mit seiner Puch Jet oft die Nase mit vorne hatte. Gegen Ende hatte diese allerdings mit einem akuten Leistungsverlust zu kämpfen.

Es war uns von vornherein klar, daß die Mopeds auf der Strecke deutlich stärker gefordert würden, als bei unserer jährlichen Fünftagesfahrt in die Schweizer Alpen. Auf dem Weg ans Mittelmeer haben wir keinen Paß gemieden, was dazu führte, daß insgesamt über 120'000 Höhenmeter zu überwinden waren, jeweils die Hälfte an Steigungen und konsequenterweise auch an Gefällen. Das hat vielleicht auch dazu geführt, daß der Höhenmesser von Patricia und Helmut im Begleitfahrzeug seinen Dienst quittiert hat - es war wohl einfach zu viel. Zum Glück hatte dieses Problem keine Konsequenzen für hervorragende Versorgung mit Trink- und Essbarem durch die beiden. Es sollte auch der einzige Ausfall beim Begleitfahrzeug bleiben, nicht aber bei den Mopeds.

Auch wenn sich die Fahrzeuge angesichts der extremen Belastungen als sehr robust erwiesen haben, war jede Strecke, die aufgrund Ihrer Steigung nur im ersten oder zweiten Gang genommen werden konnte, eine neue Herausforderung. Während auf einer leistungstarken, neuen Maschine jeder Bezug zur Antriebstechnik verloren geht, fühlt man bei den untermotorisierten Kleinkrafträdern tatsächlich mit, wenn der kleine Motor an seiner Belastungsgrenze betrieben wird. Man wurde mit einem regelrechten Glücksgefühl belohnt, wenn Roß und Reiter die Paßhöhe dann unbeschadet erreicht hatten. Zusammen mit dem oft atemberaubenden Alpenpanorama und der Vorfreude auf die kommende Abfahrt stellte sich so eine herrliche Zufriedenheit ein.

Obwohl wir in den letzten Jahren in der Schweiz einen sehr hohen Zuverlässigkeitsgrad bei den Fahrzeugen erreicht hatten, wollte in den ersten Tagen auf dem Weg nach Süden die Pannenserie nicht abreißen. Speziell die Kreidlerschrauber im Feld hatten jede Menge zu tun, bis hin zum Einbau eines mitgeführten Ersatzmotors. Die in den RS eingesetzten Langfang-12V-Zündungen erwiesen sich als gänzlich untauglich. Einzig die von Yannik hat die ganze Strecke durchgehalten. Die TM hat Ihren Piloten nur noch unter Protest auf den Iséran und mit dem letzten Zündfunken zur Herberge in Lanslebourg getragen. Diagnose: Die Unterbrecherzündung war komplett eingelaufen. Der Umbau auf MHKZ führte letztlich dazu, daß es für die anschließend kaputtgegangene Langfang von Karoline keinen Ersatz mehr gab. Nur ein Hilferuf nach Hause konnte ihre Weiterfahrt jetzt noch sichern. Mario und Tobias haben in der heimischen Garage zwei RS notgeschlachtet und die Zündanlagen per UPS-Express zum nächsten Etappenziel geschickt. Die Zwangsmitfahrt im Servicefahrzeug war für Karo doppelt bitter, da das Moped ausgerechnet auf der Anfahrt zum Bonette, dem höchsten Punkt unserer Reise, den Geist aufgab.

 

Beim Zusammentreffen mit motorradfahrende Mitmenschen reagierten diese im ersten Moment etwas irritiert, besonders wenn im obligatorischen Gespräch auf der Paßhöhe klar wurde, daß man zuhause auch noch ein „normales“ Motorrad stehen hat. Die meisten konnten es sich einfach nicht vorstellen, welch unglaublichen Spaß es bereitet mit einem Kleinkraftrad einen Alpenpaß zu bezwingen. Obwohl der ein oder andere sicher an unserem Geisteszustand zweifelte, zollten sie den Mopeds und uns Fahrern doch immer einigen Respekt. Wenn man den Skeptiker in der anschließenden Abfahrt innen, im Notfall auch außen, in einer Kehre überholte, weil er aus Trägheitsgründen einfach viel früher bremsen muß und seine Fuhre bei weitem nicht so tief in die Kurve legen kann, erschlossen sich ihm langsam die Beweggründe.

Generell waren die Reaktionen der Leute durchaus positiv. Besonders an touristisch stärker frequentierten Orten erregten unsere deutschen Nummerschilder sowie die Tourenausrüstung großes Interesse. Einige italienische Motorradfahrer haben uns über eine halbe Stunde regelrecht verfolgt, um uns vor die Linse ihrer Kamera zu bekommen. Eine besonders schöne Erinnerung verbinden wir mit der Übernachtung im Gästehaus der Wallfahrtskirche Notre Dame de Miracles in Utelle. Obwohl wir mit unseren lauten Mopeds sicher nicht zur üblichen Klientel zählten, hat uns die Herbergsmutter mit großer Begeisterung empfangen und mit bester Hausmannskost verwöhnt.